Telling Lies im Test: Intimes Drama auf den Spuren von Her Story (2024)

Vier Jahre ist es her, dass Sam Barlow kreatives Neuland betrat und ein Spiel ablieferte, das erfrischend anders war: Mit Her Story präsentierte der Regisseur und Game Designer ein intensives Video-Experiment, das mit cleverem Konzept und toller Hauptdarstellerin glänzte - auch wenn das Spiel im Grunde nur aus Filmsequenzen bestand und damit meilenweit am Massengeschmack vorbei schoss. Nun meldet sich Barlow mit Telling Lies (jetzt kaufen16,64 € ) zurück, einem geistigen Nachfolger zu Her Story, der das Video-als-Spiel-Konzept auf die nächste Stufe heben will. Dabei zieht Telling Lies zwar nicht alle Register, doch das Ergebnis ist trotzdem erstaunlich - wenn man sich darauf einlässt.

Keine Spoiler!

Telling Lies beginnt mit einem kurzen Intro: Darin sehen wir eine Frau, sie ist in Eile und betritt eine Wohnung, setzt sich dort an einen Computer, schließt eine Festplatte an. Wir blicken nun durch ihre Augen, im Display spiegelt sich stimmungsvoll ihr Gesicht. Sie öffnet ein Eingabefeld und tippt darin ein einziges Wort ein: "Liebe".

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Telling Lies: Trailer zum investigativen Full-Motion-Videogame

Damit endet das Intro und wir müssen von nun an selbst herausfinden, worum es in Telling Lies überhaupt geht. Und das ist genau wie in Her Story eine spannende Angelegenheit!

Warum kein Testvideo?
Telling Lies zieht seinen Reiz daraus, sich alle Infos selbst zusammenzusuchen. Das macht nahezu jede Szene, die wir euch in einem Testvideo zeigen könnten, zu einem Spoiler. Damit wäre niemandem gedient. Wer trotzdem bewegtes Material sehen möchte, wirft einfach einen Blick auf den Trailer.

Lügen haben lange Videos

Schnell lernen wir die Basics: Die Festplatte enthält eine geheime Videodatenbank der NSA. Um auf die gespeicherten Clips zuzugreifen, muss man sie allerdings erst mit zahllosen Suchbegriffen herausfischen, das Wort "Liebe" ist nur einer davon. Indem wir die richtigen Begriffe eintippen, fördern wir so nach und nach verschiedenste Videos zutage. Genau wie in Her Story werden allerdings nur die ersten fünf Treffer angezeigt, das heißt: Wer auch die anderen Videos sehen will, muss seine Suche mit weiteren Begriffen verfeinern.
Quelle: PC GamesDas Interface von Telling Lies: Die Suchfunktion spuckt bis zu fünf Videoclips aus der Datenbank aus.Der Umfang der Datenbank lässt sich anfangs kaum ermessen, denn schnell haben wir Dutzende Videos herausgefiltert, manche davon angenehm kurz, andere bis zu acht Minuten lang! Alle Clips zeigen ausgesprochen private Aufzeichnungen von vier Menschen, die sich per Video-Chat unterhalten oder die sich mit einer Webcam oder Smartphone selbst gefilmt haben. Wie diese Leute in Verbindung stehen, was sie einander erzählen und was davon wahr ist und was nicht, das gilt es, in Telling Lies herauszufinden. Weil das Spiel aber nicht den geringsten Hinweis darauf gibt, um wen es sich bei den Leuten handelt, werden wir auch hier nicht mehr dazu verraten - der Reiz des Spiels liegt schließlich darin, die heimlichen Aufzeichnungen zu einem schlüssigen Bild zusammenzusetzen!

Quelle: PC GamesProfi am Werk: Angela Sarafyan kennen wir unter anderem aus der HBO-Serie "Westworld".Nur das sei gesagt: Die Videoaufzeichnungen decken etwa zwei Jahre im Leben der vier Hauptfiguren ab. Sackgassen braucht man dabei nicht befürchten, der Plot hat Anfang, Mitte und Ende. Doch welche Clips man zu welchem Zeitpunkt sieht, ist dem Spieler überlassen. Theoretisch könnt ihr mit dem richtigen Suchbegriff sofort das Finale erleben, ohne zu wissen, wie es dazu gekommen ist.

Intime Einblicke

Doch egal in welcher Reihenfolge man sie schaut: Die Videos sind verblüffend gut gemacht, was unter anderem dem starken Drehbuch zu verdanken ist. Sam Barlow und seine Co-Autorin Amelia Gray (die auch an den Serien-Hits "Maniac" und "Mr. Robot" beteiligt war) haben fantastische Dialoge geschrieben, die so glaubwürdig und echt wirken, wie man es in kaum einem anderen Videospiel erlebt hat. Man fühlt sich wie ein Voyeur, der auf der Straße ein Smartphone gefunden hat und nun intimste Einblicke in das Privatleben fremder Menschen bekommt, die zu lange voneinander getrennt waren und die verzweifelt versuchen, durch die Kameralinse etwas Nähe zu erfahren.
Quelle: PC GamesHauptdarsteller Logan Marshall-Green liefert eine fantastische, ungeschönte Performance ab.Dabei sind es vor allem die kleinen Momente, die im Gedächtnis bleiben, manche davon sind wichtig für die Handlung, andere dagegen völlig trivial: Wir sehen einen Vater, der seiner Tochter mit Hingabe eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest. Wir sehen eine lebensfrohe junge Frau, die sich für ihren Freund vor der Kamera verkleidet. Wir sehen ein Camgirl, das sich lasziv auf dem Bett rekelt und seine zahlende Kundschaft anheizt. Wir sehen den Streit zwischen Ehepartnern, die Enttäuschung über geplatzte Familientreffen oder rührende Augenblicke wie der eines kleinen Mädchens, das bei einer verpatzten Schulaufführung schluchzend von der Bühne rennt. Es sind zutiefst private Szenen, die nicht für unsere Augen bestimmt sind.

Quelle: PC GamesNicht alle Szenen sind wichtig für den Plot, doch für das Gesamterlebnis sind sie unerlässlich.Und wir sehen bedrückende Momente, in denen die hässliche Wahrheit ans Licht kommt. Denn diese Menschen sind Teil einer größeren Geschichte, verbunden durch ein Geflecht aus Lügen, das wir erst nach und nach entzerren. Entscheidungen treffen wir dabei nicht, der Spieler hat keinen Einfluss auf den Plot - wir können nur zusehen und das Puzzle Stück für Stück zusammensetzen. Je nachdem, wie man seine Suche gestaltet, gibt's am Ende einen von drei möglichen Epilogen (plus Bonus-Szenen) zu sehen, doch an der eigentlichen Geschichte ändert das nichts. Die Rahmenhandlung von Telling Lies entpuppt sich vielmehr als erstaunlich banal und weniger überraschend als in Her Story, doch das lässt sich angesichts der intensiven Einzelmomente locker verschmerzen.

Perfekte Besetzung

Dass Telling Lies trotz mancher Schnitzer funktioniert, liegt aber nicht nur am Drehbuch, sondern auch an seiner professionellen Besetzung. Der Cast ist bis in die Nebenrollen erstklassig, vor allem die vier Hauptdarsteller liefern Glanzleistungen ab. Die umfangreichste Rolle hat Logan Marshall-Green ergattert, den Kino-Fans bereits aus Spider-Man: Homecoming oder Prometheus kennen und der für Telling Lies auch als Produzent tätig war. In zwei weiteren Hautprollen sind Alexandra Shipp (X-Men: Dark Phoenix) und Angela Sarafyan (Westworld) zu sehen, die ihre Figuren mit viel Feingefühl, Charme und vollem Einsatz zum Leben erwecken. Das größte Lob gebührt aber Kerry Bishé, die sich bereits mit großen Parts in Argo, Halt and Catch Fire, Scrubs oder Red State einen Namen gemacht hat und die nun in Telling Lies ihr ganzes Können in die Waagschale wirft: Ihr hat das Spiel einige seiner besten Momente zu verdanken.

Bildergalerie

Lahme Rückspulfunktion

Quelle: PC GamesBrillant: Alexandra Shipp spielte bereits in den letzten beiden X-Men-Filmen mit. In Telling Lies läuft sie zu Hochform auf.Was die Schauspielleistungen noch bemerkenswerter macht, ist die ungewöhnliche Erzählweise, für die sich Sam Barlow entschieden hat. Die meisten Videos bestehen aus Dialogszenen zwischen zwei Leuten, die sich per Webcam unterhalten. Während der Dreharbeiten waren die Darsteller deshalb live per Videotelefonie verbunden, damit sich ein natürlicher Dialog entwickelt. Der Spieler merkt davon aber zunächst wenig, denn in den Videos sind die Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung nie zu hören oder zu sehen! Das bedeutet, dass man sehr viel Zeit damit verbringt, einer Person ins Gesicht zu starren, während sie jemandem anderem zuhört - ohne dass man weiß, worum es in dem Gespräch überhaupt geht. Schade, dass die Entwickler hier keine Möglichkeit eingebaut haben, die bereits entdeckten Videos nachträglich zu verknüpfen und sie so als gemeinsames Gespräch abzuspielen.

Die langen Pausen in den Videos machen das Betrachten manchmal anstrengend, was durch eine unglückliche Designentscheidung noch erschwert wird: Die Suchfunktion filtert nämlich nicht einfach nur die gewünschten Videodateien heraus, sondern startet sie auch gleich an der Stelle, in der das gesuchte Wort gesagt wird. Das Problem dabei: Es ist nicht möglich, mit einem Tastendruck an den Anfang des Videos zu springen, stattdessen muss man - warum auch immer - wie bei einem uralten VHS-Gerät umständlich zurückspulen, wenn man den kompletten Clip sehen und kein Detail verpassen will. Das kostet viel Zeit und bremst den Spielfluss unnötig aus. Auch eine Abschrift des Gesprächs lässt sich nachträglich nicht einsehen, was das System noch absurder macht - schließlich verfügt jeder Clip über Untertitel, die man aber nirgendwo nachlesen darf. Immerhin: Im Gegensatz zu Her Story sind sämtliche Texte und auch die Suchbegriffe diesmal auch auf Deutsch. Die englischen Videos wurden dagegen nicht angetastet, deutsche Sprachausgabe gibt es also nicht.

Praktische Helfer

Unser einziges Hilfsmittel ist ein Notizblock (lohnt sich für die vielen Namen!) und eine Bookmark-Funktion. Vor allem letztere ist wichtig, da sie markierte Clips in eine chronologische Reihenfolge bringt. Der Spieler muss also im Grunde nur die wichtigen Clips von den unwichtigen unterscheiden und diese mit einem Lesezeichen versehen - schon hat man schnell eine logische Abfolge der Ereignisse zusammen und kann gezielt die Lücken füllen. Auf diese Weise hat man Telling Lies schon nach wenigen Stunden zusammengesetzt und das Ende erlebt - doch das heißt natürlich nicht, dass man deshalb auch wirklich alles gesehen und verstanden hat.

Tipp: So seht ihr wirklich alles!

Ein kleiner Hinweis für alle, die Telling Lies bereits durchgespielt haben und gerne noch die letzten Szenen sehen wollen: Öffnet einfach das Spielverzeichnis, im Fall der Steam-Fassung ist das Steam\steamapps\common\Telling Lies\TellingLies_Data\StreamingAssets\Videos. Dort liegen alle Videos als MP4-Dateien vor, netterweise sogar gleich in der richtigen Reihenfolge. Wenn ihr nun zwei Video-Player gleichzeitig öffnet (z.B. den kostenlosen VLC-Player), könnt ihr die Szenen als richtige Gespräche ansehen, dazu müsst ihr beide Clips einfach nur gleichzeitig starten. Gern geschehen!

Telling Lies ist für PC via Steam und GOG erhältlich, der Preis liegt bei 16,80 Euro. Das ist für ein Spiel immer noch wenig, fällt aber doppelt so teuer aus wie das vier Jahre alte Her Story. Im Bundle kosten beide Spiele etwa 22,50 Euro.

Wertung zu Telling Lies (PC)

Wertung:

8/10

Pro & Contra

Ausgezeichnete Schauspieler bis in die NebenrollenIntelligente DialogeCleveres Drehbuch voll intimer MomenteStory selbst zusammensetzen motiviertImmer noch cooles SpielkonzeptPraktische Lesezeichen-FunktionDeutsche Untertitel

Lahme RückspulfunktionKeine Möglichkeit, Videos von Anfang an zu schauenTeils zu lange Clips, in denen man die Darsteller nur beim Zuhören beobachtetRahmenhandlung wirkt etwas konstruiertKeine Möglichkeit im Spiel, Dialoge "zusammengesetzt" zu erleben

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Author: Annamae Dooley

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